SWV, 1986, Collage, 200 x 150 cm





Auszüge aus den künstlerischen Tagebüchern von Irmhild Löhlein.

Januar bis März 1985



Jan. ’85
Es ist dringend erforderlich, den Weg in die Reduktion zu gehen. Das fällt schwer, wenn die Materialsammlung Kisten und Tische füllt. Ich lasse mich zu leicht verführen von diesen schönen Materialien. Vielleicht sollte ich wenigstens in einer Farbskala bleiben? Z. B. rotes Bild, gelbes Bild, blaues Bild? Die Gefahr bei den geklebten Dingern ist immer die, daß sich sehr schnell und leicht reizvolle Stellen erzeugen lassen. Schon weiß das Auge nicht mehr, wohin es sehen soll, jagt von einer Sensation zur anderen und findet keine Ruhe - Chaos. Ordnung in das Chaos bringen geht bei mir erst, wenn das Chaos so komplett ist, daß ich es nicht mehr ertragen kann - nicht etwa Ordnung von Anfang an.


Jan./Feb. ’85
Bin noch einmal und immer wieder der Frage auf den Grund gegangen, wieso ich klebe und nicht male: Der einzige Vorteil ist bei der Collage das Reißen des Materials, dadurch entstehen Formen, auf die ich beim Malen nicht kommen würde - mit anderen Worten: Ich lasse den Zufall mitarbeiten. Die gerissenen Formen verhelfen mir zu neuen Formelementen und Formationen ... Wenn man sich soweit darüber klar ist und wie ich inzwischen auf den haptischen Reiz von Obsttüten etc. freiwillig verzichten kann, dann ist es eigentlich konsequent, den Riß zu untersuchen. Der Schnitt oder der Riß lassen sich in ihrer Wirkung am besten mit Hilfe eines möglichst extremen Hell-Dunkel-Kontrastes untersuchen - schwarz und weiß.


März ’85
Am Anfang ist der Riß. Wenn man ein bestimmtes schwarzes Papier reißt, und zwar auf eine bestimmte Weise - nämlich von oben, bleibt am Rand ein weißer Rand ste­hen (sowohl bei gedruckten Papieren, weil der Untergrund weiß ist, als auch bei gewissen gekauften Sorten, jedoch nicht bei allen). Man kann aber auch dieses Papier so reißen, daß kein weißer Rand entsteht. Mit Verschiebungen der Formen, die einmal aneinander gehört haben, kann man so arbeiten, daß die weißen Ränder die Funktion einer Linie übernehmen. Das stellt sich besonders bei großen Mengen geklebter Schwarzformen ein. Die entstehende weiße Linie ist weich, wenn sie gerissen ist, und hart, wenn sie gerade und glatt geschnitten ist. Mit diesem Kontrast kann man spielen. Der Arbeitsprozeß läßt sich umkehren, wenn man weiß auf schwarz klebt. Wichtig ist festzustellen, daß die weiße Linie im Schwarz positiv wirkt und das Schwarz als Grund erscheint, wenngleich es auf einen weißen Grund geklebt ist. Bei der Umkehrung ist die schwarze Linie positiv (wie üblich beim Schreiben, Zeichnen etc.).




SW, Collagen, je 200 x 150 cm





Nach dem ersten Schwarz - Weiß - Bild merkte ich, daß dieses Thema eine Fülle grundsätzlicher Gestaltungsprobleme in sich birgt, z.B. die Tatsache, daß eine gleichbreite weiße Linie im Vergleich zu der schwarzen breiter wirkt - d.h. das Weiß strahlt aus und das Schwarz hat die Tendenz, sich zusammenzuziehen (Grunderfahrung aus an­deren Lebenszusammenhängen: schwarz macht schlank).Das Figur-Grund-Problem stellt sich in besonders extremer Weise - wenn es gelingt, eine Austauschbarkeit der weißen und der schwarzen Formen zu erzielen, ist ein wesentlicher Punkt erreicht.
Habe da riesige Probleme mit einer schwarzen Form, die links und rechts vom Weiß angegriffen wird; noch ist und bleibt sie Figur. Ich weiß in diesem Fall noch keine Lö­sung, wenngleich ich bei anderen Bildern, auch bei einer kleinen Ideenskizze, das Problem schon glaubte, im Griff zu haben.Weiß und Schwarz bilden den härtesten und aggressivsten Hell-Dunkel-Kontrast. Man kann beide aufeinanderprallen lassen oder aber vermitteln und einen sanften Übergang erzeugen. Letzteres besonders mit gra­phischen Elementen wie Schrift oder Streifen und ebenfalls mit weichen, gerissenen Formen. Auch Grautöne lassen sich, außer mit Schriftelementen, dadurch erzeugen, daß man ein dünnes weißes Papier über einen zu harten schwarzen Rand klebt.
Wichtig ist - selbst bei der Reduktion auf Schwarz und Weiß - nicht zuviel an verschiedenen formalen Elementen zu verwenden - Schrift darf nie lesbar sein - die Grenze ist schon bei zwei nebeneinander lesbaren Buchstaben erreicht - sofort fängt man an, ein Wort zu erfinden, in dem diese Buchstabenkonstellation vorkommt. Bei zuvielen Elementen stellt sich wieder der Sensationseffekt ein - man weiß nicht, wohin man zuerst sehen soll. Vielleicht reizt mich an dem Schwarz-Weiß der graphische Reiz oder vielleicht die Herbheit, die Sprödität ...? Vielleicht eröffnet der Schwarz-Weiß-Kontrast mir ganz neue Möglichkeiten, Farbe ins Spiel zu bringen! Z.B. Schwarz, Weiß und Rot?


März ’85
Mir ist annähernd klar geworden, wie das mit der Wahrnehmung funktioniert. Der Mensch lernt erst im Laufe seines Lebens das Negativsehen. D.h. er kann Formen auch zwischen den Dingen sehen. Leider kann er sich jedoch nicht darauf beschränken die Negativformen, zu sehen, sondern er muß in seiner Lebenssituation ständig die Posi­tivformen ins Auge fassen, weil er z.B. nach ETWAS greift. Beim Gestalten eines Bildes ist jedoch der Fall gegeben, daß man sich nicht für die Negativform oder die Positiv­form zu entscheiden hat, sondern beide als gleichberechtigte Partner sehen sollte. Das ist mir bei der Arbeit mit dem Schwarz-Weiß-Kontrast erstmalig voll klar geworden ...
In: Irmhild Löhlein: Katalog. Berlin, 1986






SW, 1985, Collagen, je 30 x 20 cm





Irmhild Löhlein (* 31.8.1943 in Eichenbrück, † 12.1.2016 in Wildkuhl)


Diplom Werkkunstschule Hamburg
Hochschule der Künste Berlin: Experimentelle Grafik bei Prof. Lortz
Meisterschülerin bei Prof. Geccelli